Wie finde ich heraus, was mir wirklich wichtig ist? Was ist richtig und was falsch? In einer Welt unzähliger Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen fehlt manchmal der klare Blick auf die relevanten Dinge. Selbstführung gibt uns die Instrumente für mehr Orientierung an die Hand. Was hinter dem Konzept steckt, erzählt mir unsere Expertin Heidrun Vössing im Interview.
Ich habe oft das Gefühl, dass Entscheidungsprozesse immer mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich wäge Alternativen ab oder verschiebe Entscheidungen, weil ich denke, da muss es doch noch was anderes geben. Geht das nur mir so?
Heidrun Vössing: Ich glaube nicht, denn wir leben in einer Welt der eskalierenden Veränderungen, in der wir zunehmend mehr Reizen, Angeboten und Aufforderungen aus der Außenwelt ausgesetzt sind. Wir haben so viele Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen im alltäglichen Leben wie noch nie zuvor. Darin kann man sich schon mal verlieren.
Ja, ich treffe dann lieber gar keine Entscheidung als eine Falsche.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, warum Selbstführung in der heutigen Arbeitswelt so wichtig ist. Jeder Mensch fällt Entscheidungen anders und setzt auf eine individuelle mentale Entscheidungsstrategie. Diese ist uns aber oft nicht bewusst. Selbstführung bedeutet hier, dass wir uns unsere Art des Denkens bewusst machen und dann entscheiden, ob wir diese Art des Denkens beibehalten wollen oder nicht.
Was bedeutet das in meinem Fall?
Überleg dir, ob dein Glaubenssatz „Ich darf keine falsche Entscheidung treffen“ nicht auch so lauten kann: „Ich darf auch mal eine falsche Entscheidung treffen, denn daraus kann ich lernen.“ Bei Selbstführung geht es darum, bewusst Abstand von den eingeschliffenen Denkmustern zu nehmen und innerlich einen Schritt zurück zu treten. Konkret kann das auch bedeuten, sich zu fragen: Wie geht es mir jetzt in dieser Situation? Was löst diese Situation in mir aus? Wie möchte ich mit dieser Situation umgehen? Worauf richte ich eher meine Aufmerksamkeit – auf das Positive oder auf das Negative?
Was gehört neben der Reflexion noch dazu, wenn ich mich in der Kunst der Selbstführung trainieren möchte?
Nach dem Landauer Selbstführungsmodell von Professor Müller unterscheiden wir vier Dimensionen: kognitiv, emotional, verhaltensbezogen und physisch. Die ersten beiden berücksichtigen gedanken und Gefühle, während die letzten beiden das eigene Verhalten in den Mittelpunkt rücken. Alle vier zusammen machen Selbstführung zu einer Schlüsselkompetenz in der modernen Arbeitswelt.
Kannst du diese Dimensionen näher erläutern?
Kognitive Selbstführung heißt – wie dein Beispiel zeigt – sich die eigenen Denkmuster bewusst zu machen und sich zu überlegen, welche beibehalten oder verändert werden möchten. Emotionale Selbstführung ist die Fähigkeit sich mit attraktiven inneren Bildern und positiven Emotionen zu motivieren, die selbst gesteckten Ziele anzugehen.
Und was ist unter verhaltensbezogener und physischer Dimension zu verstehen?
Menschen zeigen in der Interaktion mit anderen immer wieder gleiche Verhaltensmuster, weil sie in der Vergangenheit erlebt haben, dass sie damit erfolgreich sind. Es gibt zum Beispiel im Büro gute Gründe, sehr sachbezogen zu kommunizieren. Es kann aber Kollegen geben, die das als unfreundliches oder distanziertes Verhalten wahrnehmen. Verhaltensbezogene Selbstführung ist die Fähigkeit mein Verhalten gezielt zu verändern, indem ich eben auch darauf achte, was ich bei anderen Menschen auslöse. Physische Selbstführung bedeutet, die eigene Vitalität und das eigene Wohlbefinden gezielt zu fördern. Ich weiß, was mir gut tut und erkenne, wann ich erholungsbedürftig bin.
Gibt es Testverfahren, die mich dabei unterstützen mehr über meine Selbstführungsfähigkeiten zu erfahren?
Ja, durchaus. Ich arbeite im Seminar „Leading myself“ zum Beispiel gern mit dem persolog Selbstführungsprofil. Anhand eines Fragebogens stellen wir fest, wie stark die vier Dimensionen bei den Teilnehmenden ausgeprägt sind. Auf Grundlage der Ergebnisse leiten wir Strategien und konkrete Schritte ab, um die Fähigkeit zur Selbstführung schrittweise und nachhaltig zu steigern.
Vielen Dank für das Interview.
Heidrun Vössing ist Lehrtrainerin, Lehrcoach (DVNLP) und Expertin für die Themen Persönlichkeitsentwicklung und Führung.