Interview mit Christof Hahn über Change-Management in Zeiten der Corona-Krise
Christof Hahn ist Change-Berater und Trainer und begleitet Unternehmen bei komplexen Veränderungsprojekten. Ich habe ihn dazu befragt, wie aus Sicht des Change-Managements die Corona-Krise bewertet werden kann.
Christof, zunächst eine persönliche Frage: Was bedeutet die Corona-Krise für Dich als Change-Berater und Trainer?
Die Corona-Krise bedeutet für mich sowohl eine neue Change-Erfahrung als auch ein nicht ganz freiwilliges Sabbatical. Also eine Zeit für Themen, die in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben sind. Da ging es mir wie vielen anderen Berater- und Trainerkollegen. Aufträge wurden kurzfristig abgesagt oder in die Zukunft verschoben. Viele Kunden haben ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt und halten nur einen Notbetrieb aufrecht. Die Organisations- und Personalentwicklung macht weitgehend Pause.
Menschen gehen mit Krisen unterschiedlich um. Welche Unterschiede kannst du in der aktuellen Situation erkennen?
Mir fällt dazu ein Ausspruch von Helmut Schmidt ein, der sagte „In der Krise erweist sich der Charakter“. Die Einschätzung und der Umgang mit der Krise wird also wesentlich von der Haltung, unserem persönlichen Mindset bestimmt, also den Einstellungen, Werten und Glaubenssätzen.
In Krisenzeiten lässt sich die ganze Spannbreite menschlichen Verhaltens beobachten. So bevorraten sich manche übertrieben für den Notfall und verursachen leere Toilettenpapierregale. Andere reisen entspannt kurz vor dem Shutdown in den Urlaub, um schon bald darauf mit hohem Aufwand zurückgeholt werden zu müssen.
Und das Verhalten hängt natürlich ab von den Vorerfahrungen mit Krisensituationen und vom sozialen Kontext, in dem man sich bewegt. Jemand, der verschiedenste Veränderungen im Leben erlebt und gemeistert hat, kann Krisen anders einschätzen und mit ihnen umgehen als Menschen, die sich zeitlebens in stabilen Umwelten bewegt haben.
Am schwierigsten auszuhalten ist es, dass morgen ganz andere Rahmenbedingungen gelten können als heute. Wie kann man mit der Ungewissheit umgehen?
In großen Krisen erhöht sich die Unsicherheit dramatisch. Die menschlichen Grundbedürfnisse nach Orientierung, Klarheit und Sicherheit werden fundamental verletzt. Wir befinden uns dann in einem permanenten Stress- und Überlebensmodus. Das kostet emotionale Kraft und wird als belastend erlebt.Von Politikern hören wir aktuell den Satz: „Wir fahren und entscheiden auf kurze Sicht“. Diese schrittweise Vorgehensweise ist der aktuellen Situation sicherlich angemessen, denn es existieren keine Erfahrungswerte. Entscheidungen sind deshalb weniger faktenbasiert und stützen sich vor allem auf Hypothesen, die in kürzeren Abständen immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Das ist übrigens für Veränderungsarbeit eine völlig „normale“ Bedingung.
Um solche Zustände besser aushalten zu können, kann es helfen, schnell neue Perspektiven zu entwickeln. Mit einem attraktiven und nachvollziehbaren Zukunftsbild als Orientierung lassen sich die kürzeren Planungszyklen eher aushalten und es motiviert, unangenehme Begleiterscheinungen der Veränderung besser zu ertragen. Fehlt dieser Leitstern, bleiben die Betroffenen emotional in der Unsicherheit gefangen.
Kannst du verstehen, wenn jetzt Stimmen lauter werden und nach den wesentlichen Ursachen für diese Krise fragen?
Das kann ich einerseits gut verstehen. Andererseits bezweifle ich, dass uns diese Fragestellung im Moment weiterhilft. Eine Unterscheidung in wesentliche und unwesentliche Ursachen verkennt die systemische Einsicht, dass Ursache-Wirkungszusammenhänge bei komplexen Phänomenen nie eindeutig zu ermitteln sind. Monokausale Ursachenerklärungen helfen zudem wenig bei der Bewältigung der Krise, führen schlimmstenfalls in die Irre oder werden genutzt, um Schuldige für die Folgen der Krise auszumachen. Das ist aus meiner Sicht wenig hilfreich.
Als Change-Berater hast du schon viele Unternehmen durch komplexe Veränderungen und Krisen begleitet. Hast du dabei wiederkehrende Muster entdeckt?
Was wir bei Krisen – und bei dieser besonders – generell beobachten können, ist die eingeschränkte Fähigkeit von Menschen und Organisationen Trends rechtzeitig wahrzunehmen, angemessen zu interpretieren und proaktiv Gegenmaßnahmen zu initiieren. Die Vorstellung, dass die Situation in Wuhan nichts mit uns zu tun hat, war ein fataler Irrtum. Und sie hat dazu geführt, dass in vielen Ländern zunächst keine Dringlichkeit zum Handeln aufkam, Entscheidungen zu spät getroffen und Maßnahmen nur zögerlich umgesetzt wurden. Krisen sind daher zuallererst Wahrnehmungskrisen der Entscheidungsträger und der handelnden Akteure.
Wie können Gesellschaften und Organisationen diese Wahrnehmungskrisen dann verhindern oder verringern?
Ganz verhindern lässt sich das nicht. Denn die menschliche Wahrnehmung ist begrenzt. Um die Wahrnehmungskrise zu verringern, können wir uns aber an einem wichtigen Change-Prinzip orientieren: Weitgehende Transparenz herstellen über das, was passiert! Denn Krisenmanagement gelingt erfahrungsgemäß besser, wenn sich alle Betroffenen ausreichend informiert und in die Prozesse eingebunden fühlen.
Aus meiner subjektiven Perspektive hat es in dieser Krise so viele Informationsangebote gegeben, wie nie.
Information im Sinne von Ein-Weg-Kommunikation reicht nicht aus. Krisenkommunikation braucht den intensiven Dialog unter allen Interessengruppen sowie die Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven einzulassen. Es müssen Hypothesen zu den wichtigsten Fragestellungen entwickelt werden, die von der Mehrheit der Akteure geteilt werden können. Wörter aus dem politischen Sprachgebrauch wie „alternativlos“ halte ich für kontraproduktiv, denn sie werten das Bemühen um eine konstruktive Auseinandersetzung und Lösungsfindung ab. Die Entwicklung einer gemeinsamen Sicht ist aber ein wesentlicher Schlüssel, um eine breite Unterstützung für notwendige und unattraktive Maßnahmen zu erreichen.
In der Change-Literatur wird vor allem beschrieben, wie Unternehmen einen freiwilligen Wandel erfolgreich gestalten können. Viele Unternehmen werden aber jetzt zu tiefgreifenden Veränderungen gezwungen. Ist das nicht ein völlig anderer Ansatz?
Ein ganz klares Nein. Veränderung verstanden als persönlicher oder organisationaler Musterbruch bisherigen Denkens hat grundsätzlich Krisencharakter. Das macht das Thema Change in der praktischen Umsetzung ja so schwierig.
Sie beruht auch nie ganz auf Freiwilligkeit. Das resultiert schon allein aus der Tatsache, dass in sozialen Systemen immer unterschiedliche Sichtweisen und Interessenlagen existieren. Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeiter ziehen selten an einem gemeinsamen Strang, wenn Veränderung angestrebt wird.
Wenn wir jetzt das Gefühl haben, dass wir zu tiefgreifenden Veränderungen gezwungen sind, dann resultiert das zunächst aus der Heftigkeit und dem weltweiten Ausmaß der Krise aber auch aus dem skizzierten Wahrnehmungsproblem sowie Versäumnissen der Vergangenheit.
Kannst du Beispiele geben?
Durch die Krise wird der Druck für private und öffentliche Unternehmen zur Digitalisierung dringlicher und unvermeidbarer. Dieser Veränderungsbedarf bestand aber schon seit mehreren Jahren, ist also nicht neu. Offensichtlich war der Leidensdruck bisher nicht groß genug oder die Akteure hatten bisher zu wenig Anreiz, ihre Komfortzone zu verlassen. Die Corona-Krise zeigt nun, wie schnell Dinge in Bewegung kommen können, wenn man „muss“. Das, was vorher kaum möglich schien – nehmen wir die Beispiele Home Office oder digitales Lernen – funktioniert auf einmal und in relativ kurzer Zeit einigermaßen zufriedenstellend. Ein bestimmtes Maß an Druck oder Zwang hat aus einer Veränderungsperspektive durchaus einen gewissen Charme.
Was können wir aus der Corona-Krise für den zukünftigen Umgang mit Veränderungen lernen?
Welche Strategien in der Krise eingesetzt werden und welche Veränderungsmechanismen in welcher Form wirken oder eben auch nicht, das können wir alle gerade live, weltweit und zeitgleich erleben. Wer genau hinschaut, der erhält gerade einen Crashkurs in Change-Management und kann beobachten, auf welch unterschiedliche Weisen mit Veränderungen umgegangen werden kann. Und das im positiven wie im negativen Sinne.
Krise bedeutet vom griechischen Wortstamm Zuspitzung oder Entscheidung. Eine Krise markiert damit den Wendepunkt einer Entwicklung. Was wir lernen können ist, dass es ein „Weiter so“ nicht geben sollte. Veränderung setzt allerdings Mut für ein radikales Umdenken in einem Sinne voraus, wie Albert Einstein es formulierte: „Probleme können nicht auf der Ebene des Denkens gelöst werden, auf der sie entstanden sind“.
Wichtig wäre deshalb eine ernsthafte und kontinuierliche Reflexion des Geschehens, eine umfassende Aufarbeitung sowie radikale Veränderungen grundsätzlicher Missstände. Denn die Krise legt ja viele Defizite im sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System „Weltgemeinschaft“ offen. Würden wir keine Konsequenzen daraus ziehen, wird uns die nächste Krise noch heftiger treffen.
Zum Schluss noch eine perspektivische Frage: Wie können sich Unternehmen besser auf Krisen vorbereiten?
Da greife ich noch einmal das Prinzip auf, was ich zuvor nannte: Transparenz. Eine Organisation muss in der Lage sein, unterschiedliche Betrachtungsweisen, Einschätzungen und Bewertungen zuzulassen sowie offene und wertschätzende Kommunikation ermöglichen. Umso eher kann sie wichtige Signale aus ihrem externen Umfeld und dem internen Geschehen angemessen deuten und daraus nachvollziehbare Entscheidungen ableiten.
Es sollte viel Raum gegeben werden, alternative Wege auszuprobieren und zu gehen. Für einen Change-Berater sind Kreativität, Fehlertoleranz, Feedback und Reflexion dabei entscheidende Begriffskategorien.
Christof, vielen Dank für das spannende Gespräch.
Zum Autor: Christof Hahn ist Experte für Change Management und begleitet komplexe Veränderungsprojekte in Unternehmen. Für das ime führt er die Seminare Change Management – die Grundlagen, Change Management – die Methoden und Change Management – die Kultur verändern durch.