Kollegiale Führung bietet dem Mittelmanagement eine riesige Chance, den Umbruch in der Arbeitswelt geschickt für sich und das Team zu nutzen. Was sich hinter dem Konzept verbirgt, wie es umgesetzt werden kann und welche Vorteile es bietet, darüber habe ich mit Karin Volbracht gesprochen.
Das mittlere Management befindet sich in einer Schlüsselposition im Unternehmen. In einer Studie heißt es, die Führungskräfte im Mittelbau „sehen die Vision an der Spitze und den Schmerz am Boden ihrer Organisation”. Wie schätzt du die aktuelle Lage des Mittelmanagements ein?
Karin Volbracht: Viele Führungskräfte im mittleren Management erleben gerade einen Umbruch: Agilität und Flexibilität, flache Hierarchien und Selbstorganisation – diese Begriffe stellen die traditionellen Führungskonzepte in Frage. Zugleich wünscht sich die Kollegenschaft ein hohes Maß an Eigenverantwortung im Job. Home Office und virtuelle Zusammenarbeit ermöglichen andere Formen der Kooperation. Und so erlebe ich in Workshops und Seminaren immer wieder die konkrete Sorge im Mittleren Management, den eigenen Job oder zumindest Status und Befugnisse zu verlieren.
Da stellen sich viele Führungskräfte die Frage, was aus ihnen wird.
Genau. Dazu kommt, dass das Mittlere Management auch in Umfragen immer wieder schlecht abschneidet. Die Unsicherheit und die Frage „Bin ich dann überflüssig?“ kann ich gut nachvollziehen. Andere Führungskräfte sind aber auch ungeduldig und fragen eher: „Kann ich das auch nur mit meinem Team ausprobieren?“
Und wie sähe eine mögliche Antwort darauf aus?
In beiden Fällen: Nicht abwarten, was passiert, sondern schrittweise den Wandel selber aktiv betreiben. Das klassische Führungsbild von „Weisung, Steuerung und Kontrolle“ oder „heldenhaftem Charisma“ in mehr oder weniger starker Ausprägung ist ein Produkt des letzten Jahrhunderts. Das war lange sehr erfolgreich. Heute bietet es keine Antwort mehr auf die zunehmende Dynamik und Komplexität der Welt – und auf gleichermaßen veränderte Menschen. Wenn das Mittelmanagement relevant bleiben will, darf es Führungsarbeit anders und agiler definieren.
In welche Richtung kann das konkret gehen?
Der Grundgedanke ist: Führungsarbeit ist und bleibt unverzichtbar! Die Frage ist nur: Wie verteilen wir Führungsarbeit so, dass verschiedene Kollegen oder Gruppen jeweils klar definierte Verantwortungsbereiche ausfüllen und hier auch echte Entscheidungen treffen. Das fördert die Initiative und Motivation, erhöht die Reaktionsgeschwindigkeit und bringt unternehmerisches Denken in die Kollegenschaft. Das Konzept der Kollegialen Führung bietet hier viele konkrete und kleinschrittige Handlungsmöglichkeiten für eine zeitgemäße agilere Zusammenarbeit.
Alle führen ein bisschen? Wie soll das gehen?
Zuerst einmal ist es an der Führungskraft, sich Gedanken zu machen, welche verschiedenen Rollen sie überhaupt ausfüllt. Die Übernahme von Führungsarbeit durch andere im Team erfolgt dann freiwillig mit einer klar beschriebenen Rolle und einer sauber abgegrenzten Verantwortung.
Was für Rollen können das sein?
Ich kenne ein kollegial geführtes Team, in dem gibt es Rollen wie „Sprecher“, „Meeting-Moderatorin“, „Team-Dokumentar“, „Konfliktschlichter“ oder „Lernbegleiterin“ – alles klassische Führungsaufgaben. Die Führungskraft selbst hat es in der Hand, dafür den Rahmen und die Grundprinzipien zu gestalten. Sie kann den Grundstein für ein lebendiges Kollegennetzwerk legen, in dem durch wechselnde Rollen parallel zum Alltagsgeschäft auf unterschiedlichen Ebenen gelernt wird.
Kannst du diesen Rahmen genauer definieren?
Die ersten Fragen zum „Rahmen“ sind immer: Welche Verantwortung, welche Themen und Entscheidungen sollen obligatorisch bei der Führungskraft verbleiben? Und welche anderen Verantwortungen, Themen oder Entscheidungen können grundsätzlich durch einzelne Kolleginnen oder Kollegenkreise übernommen werden? Was davon würde die Führungskraft einfach auch auf elegante Weise entlasten?
Sehen so die viel beschworenen flachen Hierarchien aus?
Nun ja, manche „flache Hierarchien“ enden auch in Überforderung der Mitarbeiter und im Chaos. Da wird einfach der Mittelbau abgeschafft und die Teams werden sich selbst überlassen. Ich finde gut, dass es mit dem Konzept der Kollegialen Führung klare Grenzen, gemeinsame Prinzipien und verteilte Rollen mit Entscheidungsmacht gibt.
Und was gehört noch zu so einer agilen und kollegialen Führungskultur?
Regelmäßige Retrospektiven und gut formuliertes „Instant Feedback“ untereinander, statt jährliche „Mitarbeitergespräche“ gehören natürlich auch dazu.
Kollegiale Führung stellt verschiedene Instrumente bereit, damit Kolleginnen und Kollegen aktiv an der Gestaltung der Organisation mitwirken können. Kannst du ein Beispiel geben?
Das Sog-Prinzip ist ein zentraler Grundsatz. „Pull statt Push“ bei Führungsaufgaben ermöglicht die freiwillige und schrittweise Übernahme von Verantwortung durch einzelne Kollegen oder Gruppen. Auch der Team-Monitor ist ein wichtiges Instrument bei der Kollegialen Führung. Es macht deutlich, wer sich in welcher Phase gerade um welche Aufgabe kümmert. Und es gibt viele interessante Entscheidungswerkzeuge, mit denen Verantwortung delegiert werden kann.
Nicht jeder will Verantwortung übernehmen. Manche sind zufrieden, wenn sie einfach nur ihre Aufgabe erfüllen dürfen. Was rätst du?
Entspannt und wertschätzend bleiben. Menschen, die einfach weiter ihren Job machen möchten, gehören dazu. Das ist verkraftbar, wenn gleichzeitig das freiwillige Engagement der Unterstützer im Team gefördert wird und sichtbar ist. Ich sag immer: Weiter mit den Willigen.
Vielen Dank für das Interview.
Haben wir ihr Interesse am Konzept der Kollegialen Führung geweckt? Das Seminar „Kollegiale Führung“ macht Sie mit den Praxisinstrumenten des Ansatzes vertraut und zeigt Wege zu mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung im Team auf.
Karin Volbracht, diplomierte Politologin und Psychologin, hat langjährige Leitungs- und Teamerfahrung als Journalistin – u.a. bei der Deutschen Presse-Agentur dpa. Sie lebt in Hamburg und arbeitet als Trainerin und Coach u. a. für das ime. Sie befasst sich intensiv mit Haltung und Verhalten von Führenden und liebt außer guten Fragen auch das weite Feld der internen und externen Kommunikation. Eine Herzensangelegenheit sind ihr Projekte für eine neue, bessere Arbeitswelt.