In der Trainingsbranche existiert der Mythos, das menschliche Gehirn teile sich in eine analytisch-logische linke Gehirnhälfte und eine emotional-kreative rechte Gehirnhälfte auf. Dieses Modell wird gern genutzt, um menschliches Verhalten zu erklären. Doch stimmt diese Annahme überhaupt? Lars Richter hat in einer Blogparade dazu aufgerufen, bekannte HR-Mythen zu sammeln und sie zu entkräften. Diese Möglichkeit nutze ich gern, um diese in der Trainingsbranche weit verbreitete Annahme genauer unter die Lupe zu nehmen.
In Seminaren, Testverfahren oder Artikeln zu dem Stichwort „linke und rechte Gehirnhälfte“ wird häufig behauptet, dass es eine analytische, logische, rationale linke Gehirnhälfte und eine emtionale, kreative, künstlerische rechte Gehirnhälfte gibt. So weit, so gut. Richtig Fahrt nimmt das Thema aber erst auf, wenn auf dieser Logik behauptet wird, dass bei Menschen eine Hälfte dominieren würde. So sei es eben zu erklären, dass einige Personen eher analytisch, andere eher kreativ denken und handeln. Überspitzt wird diese Annahme durch Testverfahren, die genau diese Hirnhälftendominanz aufdecken sollen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte nicht anzweifeln, dass es eher rational denkende Menschen gibt und solche, die im Volksmund als kreative Chaoten bezeichnet werden. Stereotypen wie „IT-Fachmann“ und der „typische Künstler“ lassen grüßen. Das heißt aber nicht, dass dies über die Dominanz einer der beiden Gehirnhälften ableitbar wäre.
Der Mythos lebt
Ein wirklich kurioses Beispiel für die aktive Anwendung dieses Mythos in der Praxis ist die folgende Animation:
Wie nehmen Sie die Bewegung der Tänzerin wahr? Dreht sie sich im Uhrzeigersinn oder entgegen? Je nach Drehrichtung, so wird der Mythos gern zitiert, denken Sie links- oder rechtsseitig. Neurowissenschaftlich betrachtet, ist das in der Tat Unsinn und wurde schon öfters von Experten klargestellt (z.B. von dem Hirnforscher Steven Novella).
Auf den Punkt gebracht: Die drehende Tänzerin ist lediglich eine optische Täuschung in 2D, die von unserem Wahrnehmungsapparat als dreidimensionales Bild interpretiert wird. Durch das unterschiedliche Augenmerk auf Schatten oder Konturen wird eine Drehung in die eine oder andere Richtung vom Gehirn erzeugt. Also nichts mit analytisch oder kreativ – schade eigentlich, es hätte so einfach sein können.
Auch in Präsentationsseminaren habe ich schon gehört, dass man die linke Hälfte von Power Point-Folien für Bilder verwenden soll und die rechte Seite für Text. Diese Aufteilung sei viel gehirnfreundlicher und würde beim Publikum eine bessere gedankliche Verarbeitung garantieren.
Die Theorie dahinter: das emotionale Bild wird besser von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet und der Text von der sprachverarbeitenden linken Hälfte. Stichhaltige Beweise für diese Theorie gibt es keine. Aber was soll’s? Steve Jobs, das Präsentationsgenie schlecht hin, ging bei seinen Folien auch so vor.
Auch hier gilt die Kritik nicht dem Tool an sich: Ich erachte diese Art der Foliengestaltung als grundsätzlich wirksames Stilmittel, nur sind es andere wahrnehmungspsychologische Gründe, die erklären, warum dies ein tolles Foliendesign ist. Das ist aber ein anderes Thema …
Woher stammt der Mythos überhaupt?
Letztendlich ist dieser Mythos die populärwissenschaftliche Auslegung von verschiedenen Ansätzen aus der Hirnforschung, die dem Gehirn unterschiedliche Aufbau- und Funktionsweisen beider Hälften zuschreiben. Der französische Arzt Paul Broca postulierte schon Ende des 19. Jahrhunderts, das die Sprachverarbeitung wahrscheinlich bei den meisten Menschen eher in der linken Gehirnhälfte lokalisiert ist. In den 1960er und 70er Jahren sorgte der spätere Medizin-Nobelpreisträger Roger Sperry mit seinen Split-Brain-Experimenten für Aufsehen. Sperry führte Experimente mit Epilepsiepatienten durch, bei denen aus therapeutischen Gründen die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften getrennt wurde. Die Ergebnisse untermauerten die These der eher sprachdominanten linken Hirnhälfte und die der eher in Bildern denkenden rechten.
In der Tat kein Mythos, sondern neurobiologischer Fakt: Durch die Kreuzung der Sehbahnen wird das linke Blickfeld von der rechten Hirnhälfte verarbeitet und das linke Blickfeld von der rechten.
Die generelle Behauptung, die linke Gehirnhälfte sei eher für kognitive Aspekte und die rechte für emotionale ist aber eine fälschliche Verallgemeinerung von solchen Einzelbefunden. Unsere hohen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sind viel zu komplex als das Sie in einem so simplen Modell abbildbar wären. Schon seit den 1980er Jahren versuchen Wissenschaftler gegen diesen Mythos anzureden – leider halten sich die „sagenhaften Geschichten“ trotzdem hartnäckig.
Was stimmt denn nun wirklich?
Der aktuelle Stand der Forschung sieht so aus: Wir haben das Gehirn in seiner detaillierten Funktionalität bei weitem noch nicht verstanden. Wir können wenige unumstößlich-simple Aussagen über die komplexe Neurophysiologie machen. Das Gehirn nutzt bei unterschiedlichen Aufgabentypen die eine oder andere Hirnregion mehr oder weniger. Im Großen und Ganzen ist das Gehirn aber als interagierendes System zu verstehen. Kreatives Denken und analytisches Problemlösen lassen sich demnach erst im Zusammenspiel zwischen vielen verschiedenen (und beidseitigen) Hirnregionen entfalten.
Wie sollen wir damit in der Weiterbildung umgehen?
Simple Testverfahren wie die zitierte berühmte Drehfigur können nicht zur Bestimmung der Hemnisphärendominanz genutzt werden. Sie sagen nichts über die Präferenz eines Menschen aus, entweder emotional-kreativ oder kognitiv-analytisch zu denken. Lassen Sie sich daher von solchen Ansätzen nicht beirren.
Warum lösen wir uns also nicht einfach von dem Dogma, dass analytische und emotionale Denkprozesse zwangsläufig 1:1 mit den beiden Gehirnhälften korrespondieren? Wir können in Seminaren mit einem Augenzwinkern auf diesen Mythos verweisen und anschließend konstruktiv damit umgehen. Wir tauschen das „entweder-oder-Denkmodell“ mit einem „sowohl-als-auch“. Verabschieden wir uns von dem Mythos, dass Personen entweder linkshirnig-rationale Typen oder rechtshirnige-kreative Chaoten sind.
Nutzen wir doch die Tatsache, dass für uns Menschen fast immer sowohl rationale als auch emotionale Kompetenten im Denken und Handeln eine zentrale Rolle spielen. Wenn wir in der Weiterbildung diese beiden Komponenten vereinen, erreichen wir in der Regel den Lernenden besser. Emotionales Storytelling und analytische Studien zur Untermauerung unserer Aussagen können eine Lösung sein. Oder wie es Jerome Bruner auf den Punkt brachte: mit dem logischen Denken hat die Menschheit die Gesetze der Schwerkraft entdeckt, aber nur durch Geschichten, wie der von Ikarus und Daedalus hat sie den Traum vom Fliegen lange genug aufrecht erhalten, um ihn letztendlich zu realisieren.